Warum sie nicht mehr weinen konnte.
Fünf Stunden Fahrt waren genug. Er war müde. Vier Gürteltieren hatte er ausweichen können, das Sechste hatte er überfahren. Jetzt saß er im Zimmer eines drittklassigen Motels. Der Teppichboden roch nach Moder, die Klimaanlage surrte und draußen ging langsam die Sonne unter. Er holte sein Tagebuch aus dem Koffer, schlug es auf und begann auf einer neuen Seite mit der Überschrift: "Warum sie nicht mehr weinen konnte." Er wollte alles niederschreiben. Die ganze Geschichte. Wie sie sich kennen gelernt hatten. Damals im Bus. Er wollte von den endlos langen Nächten schreiben, die sie verbracht hatten. Von den tausenden Stunden, die sie wach neben einander gelegen hatten. Von den Millionen Glücksmomenten. Er wollte alles niederschreiben, um zu verstehen, warum sie von einem Tag auf den anderen nicht mehr weinen konnte. Warum sie ... Tock, tock - plötzlich klopfte es an der Türe. Er legte das Tagebuch zur Seite. Wer wusste, dass er hier war? Hatte der Portier etwas vergessen? Hatte er etwas vergessen? "Ich weiß, warum sie nicht mehr weint", hört er von draußen eine Stimme sagen. "Ich weiß, warum." Kopfschüttelnd öffnete er die Türe und stand vor einem Räucherstäbchen, das ihm ungefähr bis zur Hüfte reichte. "Darf ich reinkommen?" Er nickte. "Stört es Sie, wenn ich rauche?" Ohne eine Antwort abzuwarten, hüpfte das Räucherstäbchen ins Zimmer. "Seien Sie nicht enttäucht, dass ich alleine gekommen bin. Aber die anderen sind in Gedanken bei Ihnen. Und was ich Ihnen zu sagen habe, kann ich auch alleine tun." War es betrunken? Was redete dieses Räucherstäbchen da? "Nein, ich bin nicht betrunken - falls Sie das jetzt denken. Glauben Sie mir, das macht alles Sinn. Für sich gesehen. Bleiben wir aber bei Ihrer Geschichte, einverstanden?" Ohne zu wissen warum, nickte er wieder zustimmend. "Sie lieben sie, nicht wahr?" Es war eine rhetorische Frage. Natürlich liebte er sie. Sonst wäre er ja nicht hier. Sonst hätte er nie dieses Tagebuch schreiben wollen. Sonst wäre er schon längst zuhause. "Setzen Sie sich und hören Sie zu." Das Räucherstäbchen ging zum Wandschrank, öffnete ihn und holte eine kleine Elektro-Orgel hervor. Wo kam die denn her? Die Luft im Zimmer war inzwischen durchzogen von dicken Rauchschwaden. Der Duft erinnerte ihn an etwas - er konnte nur nicht sagen, was es war. Das Rächerstäbchen setzte sich zu ihm auf das Bett, schaltete die Orgel ein und begann zu singen:
"Froh zu sein bedarf es wenig, und wer froh ist, ist ein König."
Zack, aus. Kaum hatte das Räucherstäbchen die Zeile fertig gesungen, sprang es auf und warf die kleine Orgel gegen Wand. Mit einem lauten Knall zerbrach sie in tausend Teile. Sogar ein kleiner Funke war zu sehen. "WEISST DU, WARUM SIE NICHT MEHR WEINEN KANN?! WEIL DU IN EINEM MOTEL IM NIRGENDWO SITZT UND EINEM RÄUCHSTÄBCHEN BEIM SINGEN ZUHÖRST! DU MACHST UNUNTERBROCHEN SOLCHE DINGE. DU GRÜBELST UND DENKST, ABER DU FÜHLST NICHT MEHR! DU SUCHST GRÜNDE IN DER VERGANGENHEIT, KANNST ABER NICHT MEHR ÜBER DAS JETZT WEINEN. DU HAST DAS WEINEN VERLERNT. UND DAMIT IHRES GESTOHLEN. WAS KOMMT ALS NÄCHSTES?! WILLST IHR DAS LACHEN NEHMEN? HÖR AUF, ZU DENKEN. FÜHLE! UND LASS WEINEN, WER WEINEN WILL. VOR ALLEM, WENN ES DU BIST." Das Räucherstäbchen begann zu husten. Wahrscheinlich hatte es in der Aufregung ein bisschen von seinem eigenen Rauch eingeatmet. Es klopfte sich auf seine Mitte und lief bei der Tür hinaus.
Er begann zu weinen.
Dann zu lachen.
Dann fuhr er nach Hause und gab ihr das Weinen zurück, das er ihr gestohlen hatte.
tobiasfedersel - 16. Jul, 15:05
Evelyn